Ohne Titel
von Gazania
Auf dem Boden der Taverne, in einer abgelegeneren Ecke, liegt ein Stück Papier,
zusammengeknüllt, anscheinend eine herausgerissene Seite aus einem Buch. Wer sie aufhebt
und glattstreicht, sieht, dass sie mit dünnen schwarzen, geschwungenen Buchstaben
beschrieben wurde, und kann folgenden Text lesen:
Da schwebte sie also hinab in eine ungewisse Zukunft. Eben noch war sie Teil eines Ganzen
gewesen, trug den Körper durch die Luft und zitterte im Wind, der Sonne entgegen. Dann kam
der unerwartete Schlag, die ungleichmäßige Bewegung, die nötig war, um der Windböe etwas
entgegenzusetzen. Gleich würde sie in den Dreck der Erde fallen, beraubt jeder Freiheit,
verdammt zu einem Dasein in der Schwerkraft. Ohne ein Geräusch zu verursachen lag sie
plötzlich da, es war staubig, der hölzerne Untergrund hatte sie abgefangen, bevor der Dreck
des Bodens sie überkam und sie unachtsam von Schuhsohlen und nackten Füßen getreten
worden wäre. Ein leichter Windstoß verhalf ihr zu neuem Leben, der Schatten entfernte sich
von ihr und wurde wieder unscharf, beglitt sie weit unter sich.
Sie tobte, schwebte und überschlug sich. Ein paar Sonnenstrahlen fing sie ab, bevor die
Wärme des Lichts den Boden erreichte. Weiche Finger ergriffen sie, ein Kind rief seiner Mutter
etwas zu. Im Takt der Schritte wippte sie mit, wurde geschüttelt und durch den Druck der Luft,
die sie durchschnitt, gebogen, beinahe wäre sie gebrochen. Haare umgaben sie, weich wie
Samt und scharf wie Rasierklingen. Die Bewegungen wurden schneller, die Schreie der Kinder
lauter und auch das Lachen nahm zu. Sie löste sich, die Haare verschwanden und erneut
umgab sie ein zarter Wind. Dann wurde es dunkel - und eng. Die Haut toter Tiere schloß sie
ein, Papier streifte sie von allen seiten und drückte sie zusammen.
"Klick"; Warmes Licht traf sie, Licht, das nicht von der Sonne stammte sondern von einem Feuer.
Es knisterte, eine Hand voller Wunden und Kratzer ergriff sie und drehte sie zwischen den
Fingern hin und her. Ein ruhiger Blick traf sie, ein Lächeln, dann plötzlich glitt die Klinge eines
scharfen Messers durch sie hindurch. Kurz darauf saugte sie sich voll mit schwarzer Flüssigkeit,
lehnte an kühlem Glas und wurde bald wieder von zwei Fingerspitzen gehalten. Die Hand
bewegte sich mit Schwung und zog sie über ein Blatt Papier, hob sie an und zog erneut ihre
Bahnen. Worte entstanden, wo vorher nichts war als Leere, Worte der Liebe und der
Zuneigung. Das schwarz verließ sie langsam, hinterließ seine Spuren und sie saugte sich ein
weiteres Mal voll. Wieder und wieder, bis es der Worte genug waren. Sie verharrte in der
schwarzen Flüssigkeit, im Dunkel eines kühlen Raums.
Zwei Männer unterhielten sich, lachten, diskutierten. Wieder wurde sie von der Hand ergriffen
und zog ihren geschwungenen Weg, dann wurde sie weitergereicht. Faltig und rau, mit kleinen
weißen und grauen Häärchen übersät, wurde sie geführt. Zackig war der Weg nun, nicht mehr
geschwungen und mit viel stärkerem Druck. Sie durchkreuzte eine Linie, die nicht durch ihren
Weg entstanden war, wurde angehoben und begutachtet. Erschütterungen, immer wieder
knallte sie gegen das kühle Glas, an dem sie vorher noch gelehnt hatte. Schwarz spritze es aus
ihr heraus, dann wieder Enge. Weißer Leinen überall.
Wenig später lag sie auf einem metallenen Untergrund. Fackelschein umgab sie von allen
Seiten, dickes Pergament lag neben ihr. Ein leichter Windzug wirbelte den Staub um sie herum
immer wieder auf. Ein Quietschen, ein Knall, Schritte hallten durch den großen Raum. Ein
Weinkelch schepperte neben Ihr auf das Metall und verharrte. Die alten, faltigen Hände
ergriffen sie und tränkten sie mit dunkelroter Flüssigkeit. Schütteln, schnelle Bewegungen, mit
spitzen Richtungswechseln schoß sie über das Pergament, wieder entstanden Worte, diesmal
keine Worte der Liebe sondern Worte des Todes. Keine Worte der Zuneigung, sondern Worte
des Krieges. Rot wurde es getränkt, bevor das Pergament seinen Weg aufnahm.
Viele Pergamente erkundete und füllte sie. Mal mit Worten des Todes, mal mit Worten der
Hoffnung, mal mit Zuversicht oder Versöhnung. Eines Tages, die Fackeln senkten die
Umgebung in schummriges Licht, hielt sie dem Druck nicht mehr stand und brach. Ein roter
Klecks verteilte sich auf dem Pergament und die alte, raue Hand, die mittlerweile schwach und
zittrig geworden war, zerknüllte es. Flammen umgaben sie, es wurde heiß und heißer, bis sie
schließlich verglühte.
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